Interfraktioneller Aufsetzungsantrag nach § 34 GemO – hier: Entschließung des Freiburger Gemeinderats zum sog. „Radikalenerlasses“ bzw. zu den „Berufsverboten“ in Baden-Württemberg
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Horn,
hiermit beantragen die unterzeichnenden Fraktionen und Gemeinderät:innen zur
Gemeinderatssitzung am 24.10.2023 folgenden Tagesordnungspunkt aufzunehmen:
„Entschließung des Freiburger Gemeinderats zum sogenannten ‚Radikalenerlasses‘
bzw. zu den ‚Berufsverboten‘ in Baden-Württemberg“
Den Beschlüssen der Gemeinderäte in Heidelberg vom 23.3.2023, Konstanz vom 18.7.2023
und Tübingen vom 24.7.2023 folgend, nehmen wir den 50. Jahrestag des sogenannten
Schiess-Erlasses zum Anlass für nachfolgende Entschließung:
„Der Gemeinderat der Stadt Freiburg im Breisgau fordert den Oberbürgermeister auf, sich
auf allen Ebenen dafür einzusetzen, dass die Landesregierung Baden-Württembergs den
Erlass des Innenministeriums über die Pflicht zur Verfassungstreue im öffentlichen Dienst
(„Schiess-Erlass“) vom 2. Oktober 1973 ersatzlos und vollumfänglich aufhebt, alle
Betroffenen rehabilitiert und entschädigt.“
Begründung:
Im vergangenen Jahr jährte sich zum 50. Mal der sogenannte „Radikalenerlass“. Er wurde
1972 von der Ministerpräsidentenkonferenz unter dem Titel „Grundsätze zur Frage ver-
fassungsfeindlicher Kräfte im Öffentlichen Dienst“ beschlossen. In der Folgezeit wurden
etwa 11.000 Berufsverbots- und 2.200 Disziplinarverfahren eingeleitet und offiziell
1.256 Bewerberinnen und Bewerber nicht eingestellt sowie 265 Beamte entlassen.
In Baden-Württemberg wurde der Beschluss „mit besonderer Härte“ (Ministerpräsident
Kretschmann), mittels des sogenannten „Schiess-Erlasses“ vom 2. Oktober 1973 praktiziert.
Der nach dem damaligen Innenminister Karl Schiess benannte Erlass jährte sich dieser Tage
zum 50. Mal.Anlage zu TOP 2 der öffentlichen Sitzung des Gemeinderates am 28.11.2023
Der sogenannte „Radikalenerlass“ hat der Demokratie und dem gesellschaftlichen Klima in
der Bundesrepublik schweren Schaden zugefügt. Nicht wenige Menschen wurden in ihrer
Existenz bedroht. Sehr viele ließen sich einschüchtern und scheuten ein demokratisches
politisches Engagement. Viele der damals Betroffenen spüren die Auswirkungen der
Berufsverbote durch Kürzungen bei ihren Ruhegehältern oder sogar Altersarmut bis heute.
Einige der Freiburger Betroffenen haben über Jahrzehnte hinweg aktiv an der Gestaltung der
kommunalen Demokratie mitgewirkt und zum Beispiel im Freiburger Gemeinderat, den
Gewerkschaften oder Bürger:inneninitiativen mitgearbeitet.
Negative Auswirkungen sind auch bis heute in der Gesellschaft spürbar. Nicht wenige junge
Menschen, die einen Beruf im öffentlichen Dienst anstreben, sind verunsichert, inwieweit sie
sich politisch engagieren dürfen. Leider trifft dies nicht auf Anhänger:innen der
rechtsradikalen Szene zu, die sich z.B. im Polizeidienst oder bei der Bundeswehr in den letzten
Jahrzehnten bis in Führungspositionen durchaus breit machen konnten.
Eine offene, tolerante, demokratische Gesellschaft braucht den uneingeschränkten Erhalt der
Grund- und Menschenrechte. Gerade in einer Zeit, in der ein beträchtlicher Teil der
Gesellschaft eine äußerst bedenkliche Nähe zu undemokratischen Bewegungen und
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit erkennen lässt, ist eine weltoffene,
menschenrechtsbezogene Kultur der Vielfalt unverzichtbar.
Nach nunmehr 50 Jahren ist es an der Zeit, sich dem Unrecht auch in Baden-Württemberg
vollumfänglich zu stellen, die Opfer zu rehabilitieren und zumindest finanziell zu
entschädigen, um das Kapitel „Berufsverbote“ endgültig abzuschließen.
Mit freundlichen Grüßen
Irene Vogel, Stellv. Fraktionsvorsitzende EINE STADT FÜR ALLE
Prof. Günter Rausch, Stadtrat EINE STADT FÜR ALLE
Julia Söhne, Fraktionsvorsitzende SPD/Kulturliste
Simon Sumbert, Co-Fraktionsvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen
Pia Federer, Stadträtin Bündnis 90/Die Grünen
Dr. Wolf-Dieter Winkler, FL-Einzelstadtrat
Sophie Kessl, Stadträtin JUPI-Fraktion
Sergio Pax, Stadtrat JUPI-Fraktion