Irenes Rede zur Verabschiedung des Leitbilds Migration und Integration der Stadtgesellschaft Freiburg

Portrait Irene Vogel

Wer hier lebt, gehört dazu!

Integration ist keine Einbahnstraße, keine bloße Anpassung der Neuen an die Alteingesessenen!

Aus dem Leitbild für Migration und Integration der Stadt Freiburg

Der Weg zu einer inklusiven Stadt-Gesellschaft ist wahrlich keine Rennbahn. Obwohl es zu jeder Zeit in Deutschland Migration gab, bekennt sich Politik und Gesellschaft überhaupt erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts zu ihrer Migrationsgeschichte und stellt sich ihr.

Gleiches gilt auch für Freiburg. Einige Tausend geflüchtete Menschen aus den Bürgerkriegen des zerfallenden Jugoslawiens, mehr Binnenmigration innerhalb Europas, ein zunehmend selbstbewusster Teil der Nachkommen der ersten sog. Gastarbeiter/innen Generation, aber auch viele tödlich endende rassistische Gewalttaten in den 90er Jahren – führten im Jahr 2000 zur Freiburger Resolution des Gemeinderats „Für eine offene Stadt – Gegen Fremdenhass und Rassenwahn“. Damit sprach er sich, Zitat „für Toleranz, Verständigung und der Pflege eines guten Miteinanders mit ausländischen Mitbürgerinnen“ aus. Es folgte ein Appell an die Bürgerschaft, einzeln und gemeinsam in Aktionen und Veranstaltungen durch Gesten der Solidarität und Mitmenschlichkeit Stellung zu beziehen. Die Informationskampagne kommt gut an, die Resonanz ist groß, allerdings – wen wundert‘s – vor allem in der Mehrheitsgesellschaft. Politische Partizipation der Eingewanderten und Antidiskriminierungspolitik spielen nur eine untergeordnete Rolle. Im Lauf der folgenden Jahre artikulieren die Migrant/innenvereine und der Migrant/innen-Beirat mehr und mehr ihre gesellschaftspolitische Marginalisierung. Insbesondere Minderheiten wie die Roma sind betroffen und die Kurden, aber auch die Menschen vom afrikanischen Kontinent. Die Verschärfung des Asylrechts, der Ausschluss vom kommunalen Wahlrecht und die restriktive deutsche wie europäische Beschäftigungspolitik bilden den rechtlichen Rahmen zu dieser Ausgrenzung.

Das einmalige „Wir schaffen das“ Angela Merkels, 2015 nahezu 900.000 Geflüchteten in Deutschland Schutz und eine Perspektive zu versprechen, hat auch in Freiburg ungeahnte Kräfte mobilisiert, die mehr wollten als spenden und hilfsbereit sein. Erstmals ist ein Zusammenleben auf Augenhöhe das Ziel breiter Unterstützer/innen-Initiativen, die Stadtverwaltung ist vor große Aufgaben gestellt und hat sie dank der Schaffung des Amtes für Migration/ AMI überwiegend gut gemeistert.

In der Konsequenz all des vorgenannten und angesichts der Tatsache, dass die AfD offen fremdenfeindlich, rassistisch und sexistisch gegen Zugewanderte und Geflüchtete agiert, bestand interfraktionell große Einigkeit, das uns heute vorliegende Leitbild für Migration und Integration gemeinsam mit der Stadtgesellschaft zu entwickeln.

Unsere Fraktion dankt den beteiligten Akteurinnen und Akteuren, allen voran dem federführenden AMI und dem Migrantinnen-Beirat für diesen Beteiligungsprozess und für das vorliegende Ergebnis.

Es beschreibt die Vorstellungen vom Zusammenleben in Freiburg, die Erarbeitung gemeinsamer Werte und Haltungen, kurz unser Selbstverständnis einer integrativen Stadt.

Als ganz wesentliche, erstmals klare Ansage in den Leitzielen bewertet unsere Fraktion das Bekenntnis: „Wer hier lebt, gehört dazu“ und „Integration ist keine Einbahnstraße, keine bloße Anpassung der Neuen an die Alteingesessenen“. Ein Plädoyer dafür, dass Vielfalt gelebt werden kann, dass durch Aushandlungsprozesse untereinander Synthesen entstehen können, darüber wie wir zusammen leben wollen. Natürlich dient das Leitbild auch dazu, dass Volksverhetzer keine Macht gewinnen – doch auch dazu, Alltags-Rassismus und Diskriminierungstendenzen bei uns selbst und anderen zu identifizieren und zu lernen, dem mit Selbstkritik zu begegnen bzw. Zivilcourage entgegenzusetzen.

Deutlich werden aber auch Grenzen der neuen Leitziele. So ist die gleichberechtigte Teilhabe illegalisierter Menschen schlicht unmöglich und nicht nur für geduldete Geflüchtete sind die Zugänge zum Arbeitsmarkt deutlich erschwert. Arbeit und ein auskömmliches Einkommen sind jedoch ein wesentlicher Faktor für gleichberechtigte Zugänge zu Gesundheit, Wohnraum und Kultur. Davon ausgeschlossen wird, wer in Armut leben muss – ob Einheimische oder Zugewanderte.

Die 14 genannten Handlungsfelder verdeutlichen, dass es in allen gesellschaftlichen Bereichen Handlungs- und Veränderungsbedarf gibt. Ein 15. Handlungsfeld halten wir dazu für unverzichtbar. Es reicht u.E. nicht ein bloßer Verweis in den allgemeinen Leitzielen, Zitat: „etwa nach biologischem Geschlecht oder geschlechtlicher Identifizierung eigene individuelle Lebensentwürfe entfalten zu können.“ Zur Gleichstellung der Geschlechter und deren Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt müssen mehr Aktivitäten entwickelt und entfaltet werden. In den Lebensrealitäten von Frauen und Männern, Mädchen und Jungen oder gar Menschen mit anderen geschlechtlichen Identitäten klafft weiterhin eine deutliche Lücke zwischen rechtlicher und faktischer Gleichstellung. Nach wie vor ist unsere Gesellschaft gefordert, geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen zu hinterfragen und aufzubrechen, geschlechts-spezifische Gewalt muss verhindern werden. Dazu fordern wir nach wie vor ein umfassendes gesamtstädtisches Präventionskonzept und die Weiterentwicklung von Interventionsmaßnahmen.

Obwohl wir den bürgerschaftlichen Beteiligungsprozess sehr wertschätzen, muss auch dieses Thema in den Fokus städtischer Integrations- und schlussendlich Inklusionsbemühungen genommen und als Handlungsfeld begriffen werden. Wir bitten deshalb um Zustimmung zu unserem Ergänzungsantrag, die 14 Handlungsfelder im Leitbild Migration und Integration um das weitere Handlungsfeld Gleichstellung der Geschlechter mit folgender Zielstellung zu erweitern:

Wir setzen uns für die Rechte von Mädchen und Jungen, von Frauen und Männern und aller Menschen anderer geschlechtlicher Identitäten auf gesellschaftliche Gleichstellung in allen Lebensbereichen ein. Gemeinsam schützen wir sie vor geschlechtsspezifischer Gewalt durch umfassende Prävention und Intervention.“