Linas Rede zur Corona-Krise

Portrait Lina Wiemer-Cialowicz

Sehr geehrter Oberbürgermeister Martin Horn,

sehr geehrte Bürgermeisterin, sehr geehrte Bürgermeister,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

„Das Virus ändert alles, aber es ändert sich nichts.“ Diese Worte fand der Soziologe Armin Nassehi zur aktuellen Lage. Nach dem ersten Schock versuchte meine Fraktion, die Krise als Chance zu begreifen. Zumindest hofften wir inständig, dass es nach der Pandemie besser werden könnte. Vor allem weil wir wissen, dass es längst eine Krise gab, bevor Corona kam. Und die wurde nicht von einem Virus ausgelöst, sondern von falsch gesetzten politischen Prioritäten: ein unterfinanziertes und privatisiertes Gesundheitssystem, fehlende Gleichberechtigung, steigende Armut, zu hohe Mieten, fehlender Klimaschutz. Diese Liste ließe sich lang fortführen.

Heute muss aber auch Zeit sein „Danke“ zu sagen. Wir möchten diese öffentliche Sitzung nutzen, um allen Beschäftigten der Stadtverwaltung und der städtischen Gesellschaften für ihre Arbeit der letzten Wochen zu danken. Sie haben es in dieser außergewöhnlichen Situation mit viel Energie und großem Einsatz geschafft, die Herausforderungen für die Menschen in Freiburg so machbar wie möglich zu gestalten. Beispielhaft möchten wir die offene Kinder- und Jugendarbeit nennen, die für Jugendliche schnell reagiert und digitale Möglichkeiten aufgebaut hat. Auch den vielen Ehrenamtlichen, die Hilfe und Unterstützung organisierten, wie z.B. die Netzwerke der Nachbarschaftshilfen in den Stadtteilen, gilt unsere Anerkennung. Für all das sagen wir heute von Herzen „Danke“.

Ins Blickfeld rückten Berufsgruppen, die sonst wenig im Fokus stehen. Die Aufmerksamkeit, welche Gesundheitswesen, Einzelhandel, Reinigungsgewerbe, Landwirtschaft, Transport und Logistik bekommen haben, spiegelt sich jedoch nicht in den Löhnen wieder. Danke und Applaus sind zwar schön, wichtiger wäre eine Zusage, diese Beschäftigten bei kommenden Lohnverhandlungen zu unterstützen. Das sollte selbstverständlich auch für Berufe im Bildungs- und Erziehungsbereich gelten: Denn auch Lehrer*innen und Erzieher*innen sind noch viele Monate einem hohen Risiko ausgesetzt.

Ja, es ist kein kommunales Thema, aber die Einführung eines zeitlich begrenzten Grundeinkommens wäre hier die bessere Entscheidung gewesen und hätte vor allem Frauen abgesichert, die von Krisen immer schwerer getroffen werden. Gesicherte Einkommen schaffen Perspektive und verhindern Ängste. Auf dieser Klaviatur versuchen Kräfte zu spielen, denen es nicht um das Wohl aller geht, sondern um Spaltung. Daher ist es wichtig, dass vor allem Kommunen von Seiten der Bundesregierung unterstützt werden. Wie strukturelle Ungleichheiten finanziell besser ausgeglichen werden können und was es dazu braucht, erläutert Michel Moos später in seiner Rede.

Überrumpelt von Corona waren aber auch wir als Gemeinderat. Unsere Arbeit konnten wir nicht wie gewohnt fortsetzen. Die Fraktionsarbeit lief dennoch weiter, wurde digitaler, um Informationen aus der Bürgerschaft aufzunehmen und in die Verwaltung zu tragen. Online-Sitzungen waren sinnvoll, haben uns aber Grenzen aufgezeigt. In Zukunft muss klar sein: Drastische Einschränkungen des öffentlichen Lebens bedürfen einer parlamentarischen Grundlage, im Bund, im Land, in den Kommunen. D.h. wir müssen auch in schwierigen Situationen unsere Arbeit weiterführen, gegebenenfalls in reduzierter Zahl an anderem Ort mit Schutzmaßnahmen. Denn demokratische Strukturen und öffentliche Meinungsäußerungen sind auch in einer Krise das Grundgerüst unserer Gesellschaft.

Unter besonders große Herausforderungen wurden Kinder, Jugendliche und Familien gestellt. Die Politik setzte bei Lockerungen die Schwerpunkte definitiv nicht bei ihnen. Auch wenn der Gesundheitsschutz bei allen Lockerungen immer zentral sein muss, kann es nicht sein, dass bis heute nicht klar ist, wann und wie alle Kinder wieder in Kitas gehen können. Es müssen kreative Lösungen her, wie Kinder und Jugendliche Gleichaltrige treffen können, ohne dass die Gesundheit der Erzieher*innen oder Lehrer*innen aufs Spiel gesetzt wird. Kooperationen mit den Hochschulen bieten sich in Freiburg dafür an. Werden wir kreativ und warten nicht immer auf Lösungen aus Berlin und Stuttgart!

Erlauben Sie mir hier einen Exkurs: In den letzten Wochen wurde darauf hingewiesen, dass Kinder bei längerer Quarantäne und geschlossenen Kitas Entwicklungsdefizite erleiden. Das stimmt und muss ernst genommen werden. Dass diese Einschätzung in der deutschen Politik aber nicht gleichzeitig auch dazu geführt hat, die Kinder und Jugendlichen endlich aus Moria zu befreien und die europäische Schande dort zu beenden, ist unverzeihlich und verrät die Idee eines geeinten Europas.

Hoffen wir, dass Armin Nassehi sich diesmal geirrt hat und dass sich nach Corona doch einiges zum Besseren wendet. Versuchen wir endlich eine Politik zu machen, die sich für Gleichberechtigung, Teilhabe und Klimaschutz einsetzt und gesellschaftlichen Gruppen Gehör verschafft, die in Krisen besonders stark getroffen werden. Denn so eine Politik entzieht langfristig spaltendem und rechtsradikalem Protest von Anfang an den Boden und stärkt unsere Stadt für die Zukunft. Wenn nicht jetzt, wann dann? Vielen Dank!

[Gehalten in der öffentlichen Sitzung des Hauptausschusses vom 18.05.2020]